Menexenos

11 months ago
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Platons Menexenos (um 390/387)
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SOKRATES: Von der Agora kommst du, Menexenos, – oder woher sonst?
MENEXENOS: Vom Markt, lieber Sokrates, und aus der Ratsversammlung.
SOKRATES: Was hast du doch bei der Ratsversammlung zu tun? Offenbar, dass du mit deiner
Unterweisung und Wissenschaft am Ziele zu sein glaubst, und weil du weit genug bist, du dich nun zu dem Höheren zu wenden gedenkst, und unternimmst, du Glückspilz, über uns Alte zu herrschen schon in solcher Jugend, damit euer Haus immer bereit ist, uns immer einen Regenten zu geben.
MENEXENOS: Wenn du es meinst, Sokrates, und mir auch rätst an der Regierung teilzu-nehmen, so will ich danach streben, sonst aber nicht. Jetzt jedoch ging ich in die Ratsversammlung, weil ich erfahren habe, dass der Rat einen wählen würde, der die Rede auf die Gefallenen halten solle. Denn du weißt, dass sie eine feierliche Bestattung veranstalten wollen.
SOKRATES: Freilich! Aber wen haben sie gewählt?
MENEXENOS: Keinen haben sie gewählt, sondern haben es auf morgen verschoben. Ich glaube indes, Archinos oder Dion wird gewählt werden.
SOKRATES: Es ist doch in recht vieler Hinsicht eine herrliche Sache, Menexenos, im Krieg gefallen zu sein. Denn der erhält ein schönes und prachtvolles Begräbnis, auch wer als ein armer Mann gestorben ist, und gelobt wird ebenfalls, wer auch nichts taugt, und das von kunstreichen Männern, die nicht aufs Geratewohl ein Loblied anstimmern, sondern schon lange vorher ihre Reden vorbereitet haben, und die so vortrefflich loben, dass sie, mit dem, was jeder an sich gehabt hat oder auch nicht, ihm nachrühmend mit herrlichem Wortschmuck verziert, unsere Seelen bezaubern, indem sie sowohl den Staat auf alle Weise verherrlichen, als auch die im Kriege Gefallenen und unsere Vorfahren insgesamt, ja auch uns selbst preisen, die wir noch leben. Auf diese Art und Weise ist zumindest mir ganz erhaben zu Mute ist, Menexenos, wenn ich von ihnen gerühmt werde, und ich stehe jedes Mal ganz versunken beim Hinhören, und bezaubert und glaube, ich sei zusehends größer und edler und erhabener geworden. Und wenn, wie gewöhnlich, manche Fremde mich begleiten und mit mir zuhören, werde ich gegen sie zusehends vornehmer, denn auch mit ihnen, widerfährt nach meiner Wahrnehmung dasselbe wie mit mir und der ganzen Stadt, dass sie ihnen viel wundervoller erscheint als zuvor, weil sie von dem Redner überzeugt sind.
Und dieses Selbstgefühl bleibt mir wohl länger als drei Tage, so beeindrucken kann die Rede und der Tonfall des Redners in den Ohren, dass ich mich kaum am vierten oder fünften Tage wieder besinne und merke wo in der Welt ich bin, so lange Zeit aber fast glaube auf den Inseln der Seligen zu wohnen, so geschickt sind unsere Redner.
MENEXENOS: Immer bespöttelst du die Redner, lieber Sokrates. Diesmal indes denke ich, wird der Gewählte nicht allzu leicht dran sein. Denn mit der Wahl ist es so plötzlich gekommen, dass, wer reden soll, es fast unvorbereitet wird tun müssen!
– Abspann: Max Richters »Abschied«, Klavier: Lang-Lang (The Piano Book)

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