Bernd Seidensticker – Neil Croally: Tragedy's Teaching

10 months ago
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Ὄψεις καὶ θέματα – Schauspiele und Probleme in der antiken griechischen Tragödie, Teil 2
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Die Unfähigkeit des Menschen, Orakel und Prophezeiungen zu deuten, erzeugt viel dramatische Ironie, vor allem bei Sophokles (König Ödipus, 946 ff.) Die zentrale Position im Orchester hätte genauso gut vom Chor umringt und verdeckt werden können, dessen choreografierte Bewegungen eine Verschlingung suggerieren könnten, natürlich auch die eigene.
Ajas’ Selbstmord ist ein weiterer Diskussionspunkt, dabei besteht das Problem da-rin, dass der Schauspieler, der als Ajas in sein Schwert fällt, kurz darauf als Teukros auftreten und den Leichnam beklagen muss. Diese Frage ist verbunden mit der weiteren Frage des normalerweise angenommenen Schauplatzwechsels von Ajax’ Zelt zu einem Hain in der Nähe der Meeresküste.
Ein Vorschlag ist die Verwendung unterschiedlicher Enden der Skené für die beiden Standorte (Prof. Dr. Egert Pöhlmann 1986, 28). In Bezug auf den Selbstmord wurden mehrere Lösungen angeboten, wie z. B. die Idee, dass der Ajas-Darsteller im Tod durch die Mitteltüre (so Arnott 1962, 131f.) gefallen sein könnte, wobei der Körper danach durch eine Puppe dar¬gestellt wurde, oder dass ein entsprechend angepasstes ekkyklema verwendet wurde (Webster 1970a, 17f.). Der Selbstmord völlig außerhalb der Sichtweite des Publikums wurde als die andere Möglichkeit dargestellt (Professor Egert Pöhlmann 1986, S. 27), auch wenn kein Szenenwechsel stattfand (Scullion 1994, S. 89–128). Aber in solchen Fällen können wir unmöglich Gewissheit haben!
Wenn wir die Texte der griechischen Tragödie daraufhin betrachten, welches das Licht sie auf die ursprünglichen Aufführungen werfen können, eröffnet sich eine ganze Welt des lebendi¬gen Theaters. Doch in gewissem Sinne handelt es sich dabei nur um eine idealisierte Theaterwelt. Denn es ist klar: Theater läuft nicht unbedingt reibungslos ab, und in jedem Auf¬führungs¬kontext können Dinge schief gehen. Zwar gibt es nur wenige Aufzeichnungen über solche Dinge im Zusammenhang mit der Aufführung von Tragödien in der Antike, doch die uns zur Verfügung stehenden Belege erinnern uns daran, dass auch griechische Tragödien anfällig für Pannen waren. Der berühmteste Fall betrifft den von Aristophanes und anderen Komödiendichtern gnadenlos verspotteten Schauspieler, der unwissentlich die Ernsthaftigkeit eines dramatischen Moments in Euripides’ Orestes untergrub, indem er ein Schlüsselwort falsch aussprach: Orestes sprach dieses falsch aus und sagte nicht, dass er nach seinem Sturm des Wahnsinns “Ruhe” spüre, sondern dass er eine “Miezekatze” sehe!
Und in Aristoteles’ “Poetik”, 1455a, findet sich ein rätselhafter Hinweis auf einen Fehler des Tragödiendichters Karkinos aus dem 4. Jahrhundert, der eine seiner Figuren aus einer völlig unpassenden oder unlogischen Richtung erscheinen ließ, was den Zorn des Publikums erregte und zu Karkinos’ spektakulärem Scheitern im Wettbewerb führte.
Geschichten wie diese bringen uns die griechische Tragödie als lebendiges Theater nahe, das durch fehlbare menschliche Akteure wirkt. Gleichzeitig führt es zu erheblicher Frustration darüber, dass unser Wissen so begrenzt ist und dass so viel über das Thema im Bereich der Spekulation bleibt. Aber was wäre, wenn wir in der Zeit zurückreisen und der Uraufführung von Ödipus der König beiwohnen könnten? – Die britische Gräzistin Amy Marjorie Dale hat 1967 etwas ernüchternd vorgeschlagen, dass wir bei solch einer Zeitreise neue Idiome der Musik und der Orchester- und Bühnentechnik erwerben müssten, die gewiß nicht einfacher wären als die Sprache selbst – und angesichts der Vorurteile unserer modernen Ästhetik noch schwieriger. Bitte kombinieren Sie nun nicht den literarischen Ansatz mit der Tendenz, moralische Dilemmata als die eigentliche Substanz der Tragödie zu sehen:
Ein Grund ist zunächst, dass für das athenische Publikum Moral und Ideologie nicht zu trennen waren. Solche Kritiker, die die Tragödie im Namen der Moral und der Kunst verallgemeinern, mögen in der Tat die Anziehungskraft der attischen Tragödie erfassen, aber auch hier verfehlen sie die Besonderheit der Tragödie und ihr historisches Moment.
Wir können nicht sagen, was die genauen Auswirkungen der tragischen Lehre waren. Wir haben zum Beispiel keine Beweise für eine Abstimmung in einer Versammlung oder eine Entscheidung in einem Gericht, die direkt von einer Tragödie beeinflusst wurde (es ist unwahrscheinlich, dass ein Publikum von 14.000 oder mehr Menschen auf genau dieselbe Weise reagierte).
Dennoch können wir auf der Grundlage der Belege sagen, dass die attische Tragödie des 5. Jahrhunderts auf ihre besondere Art und Weise die Bürger des demokra-tischen Athens ungeheuer beeinflusst haben muss. Es gibt noch eine weitere mögliche Schlussfolgerung: Wir befinden uns vielleicht nicht in der gleichen Situation wie die demokratischen Bürger von vor 2500 Jahren; wir lernen vielleicht nicht die gleichen Dinge wie sie aus den Stücken. Aber die Tragödie kann uns lehren, dass Lehre und Literatur (oder Belletristik oder Kunst) sich nicht gegenseitig ausschließen; dass politische Literatur keine langweilige Sache ist, ohne Schönheit oder Erheiterung; und dass eine reflektierende, gemeinschaftliche Antwort auf die Fragen, die uns als Menschen und Bürger am meisten beschäftigen, etwas Wertvolles ist.
Neil T. Coally meint, dass wir in einem literarischen Ansatz die Tendenz, Moral oder moralische Dilemmata (im Gegensatz zur Ideologie) als die eigentliche Substanz der Tragödie zu betrachten, vermissen, dass für das athenische Publikum (eigenartigerweise oder nicht) Moral und Ideologie nicht zu trennen waren (Green 1999, Griffin 1998). Solche Kritiker, ich vermute, dass sie sich wirklich für das Tragische interessieren: daran ist nichts auszusetzen! Aber solche, welche die Tragödie im Namen der Moral und der Kunst universalisieren, mögen zwar die transhistorische Anziehungskraft der attischen Tragödie erfassen (obwohl), aber sie verkennen wiederum die Besonderheit der Tragödie und ihres historischen Moments.
Wir können nicht sagen, was die genauen Texte der tragischen Lehre waren. Wir haben zum Beispiel keine Beweise für eine Abstimmung in einer Versammlung oder eine Entscheidung in einem Gericht, die direkt von einer Tragödie angezogen wurde (und wir müssen sowieso bedenken, dass es unwahrscheinlich ist, dass ein Publikum von 14.000 oder mehr Menschen auf genau dieselbe Weise reagierte). Auf der Grundlage der Belege können wir jedoch sagen, dass die attische Tragödie des fünften Jahrhunderts auf ihre besondere Art und Weise die Bürger des demokratischen Athens des fünften Jahrhunderts lehren sollte.
Noch eine weitere Schlussfolgerung ist möglich:
Wir sind vielleicht nicht in der gleichen Lage wie diese demokratischen Bürger vor 2500 Jahren; wir lernen vielleicht nicht das gleiche aus den Stücken wie sie.
Aber die Tragödie kann uns lehren, dass Lehre und Literatur (oder Belletristik oder Kunst) sich nicht gegenseitig ausschließen; dass politische Literatur nichts Langweiliges ist ohne Schönheit oder Erheiterung; und dass eine reflektierte, gemeinschaftliche Reaktion auf die Fragen, die uns als Menschen und Bürger am meisten betreffen, etwas Wertvolles ist.
Anmerkungen:
Dank gilt dem britischen Altphilologen Angus Bowie, Pat Easterling, Simon Goldhill Erfindung der Prosa schreibt Goldhill den Griechen zu – und Prof. Justina Gregory für ihre hilfreichen Kommentare zu früheren Entwürfen. Studenten sagen, dass die Sherrerd-Lehrpreisträgerin Justina Gregory die antike Welt im Klassenzimmer lebendig werden lässt. Justina Gregory, die seit 1975 an der Hochschule lehrt, ist eine renommierte Wissenschaftlerin der griechischen Tragödie und Geistesgeschichte. Die Schüler beschreiben sie als inspirierend und respektvoll gegenüber ihren Ideen – als jemanden, der im Klassenzimmer „die antike Welt lebendig gemacht hat“.
Was war die größte Herausforderung für Sie als Lehrer?
Justina Gregory dazu:
„Ich bekenne mich zu den Geisteswissenschaften in einer Kultur, die diese Dis-ziplinen scheinbar unterschätzt. Meine Kollegen und ich sind davon überzeugt, dass die von uns vorgelebten Untersuchungsgewohnheiten und die in den von uns präsentierten Texten ver-ankerten intellektuellen und ethischen Werte unseren Schülern für den Rest ihres Lebens Halt geben werden. Aber es kann schwierig sein positiv und optimistisch zu bleiben, angesichts der Gleichgültigkeit in der Gesellschaft gegenüber dem, was die Geisteswissenschaften zu bieten haben.“
Sara Pruss: „Es hat eine Weile gedauert, bis mir klar wurde, wie vielfältig die Art und Weise ist, wie Studenten Informationen verarbeiten und lernen. Da keine zwei Studenten gleich sind, müssen Sie die Art, wie Sie Materialien anbieten und Ergebnisse bewerten, ständig anpassen. Das ist auch einer der lohnendsten Aspekte des Unterrichtens.“
1. Neil T. Croally hat diese Fragen zwar an anderer Stelle erörtert (Croally 1994, insbesondere 17–46), aber einige Rezensenten (Marshall 1995, Sansone 1995) waren nicht überzeugt. Dies und Versuch, der Tragödie die erzieherische Funktion abzusprechen (Griffin 1998), haben mich dazu bewogen, die Beweise noch einmal darzulegen.
2. Für einen beweiskräftigen Artikel von Kative, der argumentiert, dass der "Kontext", wie er von Vernant und anderen verwendet wird, die Bedeutung eines Textes in ähnlicher Weise einschränkt wie die Einladungen des Autors (oder die Absicht des Autors) die Bedeutung in der früheren philologischen Kritik einschränkten, siehe Gellrich 1995. Für eine pointierte und viel-leicht überraschende Ansicht darüber, warum wir Autoren (oder vielleicht den Kontext) brau-chen, gerade damit wir die Bedeutung begrenzen können, siehe Foucault 1979.
3. Platon irrt sich, wenn er sagt, dass es in der Tragödie keine Reflexion über moralisches Handeln gibt. zum Beispiel denkt die tragische Figur Medea häufig über den moralischen Status und die Konsequenzen ihrer beabsichtigten Handlungen nach. Eine ausgezeichnete Behadlung dieser Frage der moralischen Handlung in Tragödie und Epos findet sich bei Williams 1993.

Logos und Sophia
Die Tragödie, die Rhetorik und die Aufführungskultur (Christopher Felling)
Athen und die Aufführungskultur
Athen hat Feste aufgeführt. Es war eine Stadt der Feste: Wer an ihnen teilnahm, war Bürger Athens (πολίτης). Und natürlich gehörten die Theaterfestspiele des Dionysos zu den Höhepunkten des Bürgerjahres.
Das Athen des 5. Jahrhunderts war auch eine Stadt, die sich ihrer eigenen Identität sehr bewusst war, und ein Teil dieser Selbstdarstellung bezog sich auf die Kultur, die Kennerschaft, die Kultiviertheit – oder die sophia, die Fähigkeit und Erfahrung, Werte zu erkennen und Unterscheidungen zu treffen, wo andere versagen würden. "Logos" ist hier ein Schlüsselbegriff: logos im Sinne von "Vernunft", wie wir es übersetzen würden, die Fähigkeit, Dinge zu durchdenken, und insbesondere logos in unserem Sinne von "Sprache". Es handelte sich um eine rhetorische Kultur, in der das Zuhören von Reden, also Darbie-tungen – in der Versammlung oder vor dem Gericht ein weiterer zentraler Bestandteil des bürgerlichen Verhaltens war.
Auch das Zuhören erforderte eine Bewertung, eine Bewertung sowohl des Könnens (wieder diese sophia) als auch, was noch viel wichtiger war, der Substanz des Falles:
Ist der Vorschlag dieses Redners wirklich das Richtige, sind die Dinge wirklich so geschehen, wie er sagt, ist er wirklich so unschuldig, wie er behauptet?
Dies ist eine Stadt der Worte, der Münder und der Köpfe. Und all das bedeutet, ein Bürger zu sein: all diese Rollen, die Bürger ausüben.
So wird es uns oft gesagt! Vielleicht war Athen in der Tat nicht so sehr eine "Kultur der Darstellung" wie viele andere Städte. Die spartanischen Bürger mussten Texte vortragen, wenn auch auf ganz andere Weise; und war Athen wirklich leistungsorientierter oder selbstbewusster als etwa Rom mit seinen Spektakeln, seinem aufwendigen religiösen Zeremoniell, seiner Promi-Kultur? – Wahrscheinlich nicht! Als Nazi-Deutschland? Das müssen wir stark anzweifeln! – Oder gar als die politische Kultur des heutigen Gro߬britannien oder Amerika, mit dem Fernsehen als neuem Medium und Testfeld der Wahl? (Wahrscheinlich schon, aber nicht viel.)
Was bedeutet überhaupt "Darstellung, Aufführung", und wo hört sie auf? Die meisten unserer Verhaltensweisen sind in irgendeiner Weise ritualisiert; die meisten spielen auf Rollen an oder spielen mit Rollen, die provoziert oder konstruiert sind.
Es ist nur allzu leicht, diese Kategorien so zu erweitern, dass sie keinen Interpre-tationswert mehr haben. Aber das ist in der Tat ein zu einfacher Schritt, und wir können die Einsichten nicht ignorieren, die eine Betonung dieser Leistung gebracht hat – zum Beispiel in Studien über den guten alten Homer.

Die Lehre der Tragödie (Neil T. Croally)
Wie verhält sich die Tragödie des 5. Jahrhunderts auf die athenische Polis, reflektiert sie und konstituiert sie? Eine einflussreiche Antwort kommt von Vernant und Vidal-Naquet:
"Man könnte sagen, dass die Tragödie eine Manifestation ist der Stadt, die sich selbst zum Theater macht und sich auf der Bühne vor ihren versammelten Bürgern" (1988, 185).
Im Gefolge von Vernant und Vidal-Naquet haben sich die Wissenschaftler unter anderem mit dem den Festkontext, in dem die Tragödie aufgeführt wurde, die Zusammensetzung und Mentalität des Publikums; die Darstellung von Frauen, Sklaven und Ausländern, die Bedeutung der Rhetorik: also Rhetorik in den Stücken und die Beziehung zwischen der tragischen Rhetorik und den Sophisten; und die Darstellung von Göttern und religiösen Ritualen. Mein Hauptanliegen ist es nicht, die bürgerliche, politische oder sogar demokratische Natur der Tragödie in irgendeiner dieser Weisen anzusprechen – obwohl alle wichtig sein werden).
Stattdessen möchte ich die Beziehung zwischen der athenischen Tragödie und der Polis des 5. Jahrhunderts anhand von drei Fragen untersuchen: Sollte die Tragödie im Athen des 5. Jahrhunderts lehren? Wie lehrte die Tragödie? Und warum ist es wichtig, die erzieherische Funktion der Tragödie anzuerkennen?
Funktion der Tragödie anzuerkennen?
(1) Hatte die Tragödie eine lehrende Funktion?
Schon die Art und Weise, wie ich die Frage formuliert habe, zeigt, dass ich nicht so sehr an den Absichten der Tragödiendichter als vielmehr an den Erwartungen des Publikums interessiert bin. Das heißt, ich bin mehr an den Effekten und der erwarteten Funktion der Tragödie interessiert. Ich denke, dass dies klar und deutlich gesagt werden muss, da es einige Wissenschaftler gibt, die die Funktion mit der Absicht verwechseln (Griffin, 1998, 48-50; für eine gründliche Kritik, Goldhill 2000, 38f.; Gregory 2002; Seaford 2000), oder die sich im Gegensatz dazu auf die Absicht konzentrieren. Malcolm Heath z.B. bringt als Argument vor, dass die Quellen uns zwar über didaktische Verwendungen der Tragödie informieren, dass aber in denselben Quellen kein Wort über didaktische Absichten zu finden ist (Heath, 1987b, 46–47, 88).
Er argumentiert weiter, dass didaktische Absichten, da sie nicht notwendig sind für die Produktion der Stücke, keine Beachtung verdienen.
Zur Untermauerung dieser Behauptung führt er eine Bemerkung des Autors der „Dissoi logoi“ an (Diehls-Kranz, 3,17: „Dichter schreiben ihre Gedichte nicht um der Wahrheit willen, sondern um den Menschen Vergnügen zu bereiten“).
Eine Quelle für die Bildung des Bürgers. Es ist interessant, aber vielleicht nicht überraschend, dass die dialogische Form von Platons Schriften der Tragödie ebenso viel verdankt wie jeder anderen Gattung (siehe Sansone 1996, von Reden und Goldhill 1999).
Aristoteles’ Ansichten zur Tragödie sind wesentlich schwieriger zu bestimmen als die von Platon. Während Platon sich der erzieherischen Funktion der Tragödie durchaus bewusst ist (auch wenn er sie kritisiert), wird sie von Aristoteles nicht offen erwähnt. Für Platon ist die Beziehung zwischen der Tragödie und der Polis, also dem Bürger, von größ-ter Bedeutung. In Aristoteles’ Poetik wird, wie so oft!, die Polis überhaupt nicht erwähnt (Hall 1996b).
Wenn wir jedoch die Poetik genauer lesen (und neben anderen Werken des Aristoteles), können wir sehen, dass Aristoteles etwas Wertvolles über die Erziehung zu sagen hat, die die Tragödie leistet. Wie wir gesehen haben, verspottet Platon die Tragödie als eine Mimesis, die die Wahr-heit nicht erreichen oder widerspiegeln kann; aus diesem Grund kann man die Wahrheit nicht aus ihr lernen.
In Aristoteles’ differenzierterer Sichtweise ist die Mimesis direkt mit dem Lernen ver-bunden; in der Tat beginnen wir durch die Mimesis zu lernen (Poetik 1448b5-9).
Darüber hinaus antwortet Aristoteles auf Platons Bedenken bezüglich des Vergnügens, das das tragische Publikum beim Betrachten der tragischen Mimesis empfindet, indem er argumentiert, dass das Vergnügen ebenso wie die Mimesis natürlich ist (z. B. die Nikomachische Ethik 1177 a 16–17, 1177 b 30–31).
Für Aristoteles kann die Tragödie – als Mimesis, die Vergnügen bereitet – eine wichtige Rolle bei der Erziehung der Gefühle spielen, die ihrerseits ein wichtiger Teil der moralischen Erziehung ist. Es stimmt, dass Aristoteles’ Äußerung über die Katharsis – ein Schlüsselbegriff in seiner Analyse der emotionalen Wirkung der Tragödie (Poetik 1449b24-28; Halliwell 1986, 89-90; Lear 1988) – umstritten bleibt, aber ob wir unter Katharsis die Läuterung der Emotionen, intellektuelle Klärung oder eine Art religiöse Reinigung verstehen (Belfiore 1992, Nußbaum 1986, Nuttall 1996), spielt keine große Rolle: Die Tragödie erzieht, indem sie die Emotionen erzieht, und zwar umso mehr, als sie sich eher mit dem Allgemeinen als mit dem Besonderen beschäftigt (Poetik 1451b5-l1).
Wir haben gesehen, dass Platon den Polis-Kontext der tragischen Lehre akzeptiert, aber auch kritisiert, wie und was die Tragödie lehrt. Aristoteles hingegen scheint die Polis vergessen zu haben, versteht aber die wohltuenden emotionalen und intellektuellen Auswirkungen, die die Tragödie haben kann! Die Antwort auf meine erste Frage ist also ein klares „Ja“. In der gesamten Antike und in verschiedenen Kulturen wurde von den Dichtern erwartet, dass sie lehren:
Die Tragödiendichter sollten da keine Ausnahme bilden. Darüber hinaus entstand die Tragödie im fünften Jahrhundert aus der Mischung einer poetischen und philosophischen Tradition einerseits und einem neuen politischen System andererseits, die beide die verschiedenen Kräfte des Wortes förderten und von ihnen abhingen, und reflektierte diese. Und schließlich bestätigt unser Überblick über die philosophischen Überlegungen zur Tragödie im vierten Jahrhundert, dass ihre erwartete Funktion eine erzieherische war. Doch nicht nur, weil die Tragödie Poesie war, sollte sie lehren.
Im Athen des fünften Jahrhunderts genoss die Tragödie aufgrund ihres politischen Kontextes eine sehr ausgeprägte Prominenz.
Sie wurde im Theater des Dionysos aufgeführt. Dieses Theater lag unterhalb der Akropolis, wo sich die wichtigsten religiösen Gebäude der Stadt befanden. Der Schwerpunkt lag zunächst eher auf der Komödie als auf der Tragödie (Goldhill 1991, 201-22; Heiden 1991). Es ist sogar möglich, dass Aristophanes mit einer heiligen Olivenkrone ausgezeichnet wurde, weil er, wie es der Chor 686-87 ausdrückt, der Stadt einen guten Rat gegeben hat (Sommerstein 1998). Die Handlung der 'Frösche' sieht jedoch vor, dass Dionysos in die Unterwelt hinabsteigt, um einen tragischen Dichter zu finden, der die Athener in ihrer Stunde der Not beraten kann. Auch wenn Aristophanes die Überlegenheit der komischen Lehre betonen will, so bleibt doch die Tatsache unberührt, dass die Tragödie zu erreichen war! Wir sollten uns nun nicht wundern, dass die Athener und auch andere Kreise der Poesie und der Tragödie so viel Ehre entgegenbrachten, denn unsere Quellen von Homer bis ins fünfte und vierte Jahrhundert sprechen häufig von der Macht der Worte, um eine Vielzahl von Wirkungen zu erzielen (Lain Hidalgo 1970; de Romilly 1975; Walsh 1984). Worte – und das sind nicht nur die, die von den Dichtern verwendet werden – können trügerisch und manipulativ sein (Homer, Odyssee 13,294, 14,387, 19,203; Gorgias, Enkomium der Helena 9,11; Platon, Kratylos 408c, Menon 76e, Staat 382d); sie können diejenigen versklaven, die ihnen zuhören, weil sie unwiderstehlich sind (Gorgias, Enkomium der Helena 8-9; Euripides, Hekabe 816; Platon, Gorgias, 452c).
Wie Magie, können sie verzaubern und sogar aus Trauer Freude machen (Homer, Odyssee, 4,113, 11,334, 18,282f.; Gorgias, 'Lob der Helena', Platon Phaidros 261a ff., 271c, 315a, 328d, Staat, 413 c 4, 601b).
Worte können besänftigen (Hesiod, Theogonie, Verse 98-103) und heilen und, in Gorgias’ berühmter Analogie, auf die Seele wirken, so wie 'pharmaka' (Medikamente) auf den Körper wirken (Gorgias, Lob der Helena, 14; Platon, Gorgias 456b; siehe auch Aischylos, Agamemnon 16–17; Euripides, Bacchen 326-27, Hippolytos 478, Frauen Troias Verse 472–473). Es ist wohl kein Zufall, dass die meisten dieser Hinweise von Autoren stammen, die entweder Athener sind oder mit dem Athen des 5. oder 4. Jahrhunderts in Verbindung stehen. Denn Athen war eine Logopolis, eine „Stadt der Worte“ (Goldhill 1986a, 57–78), und die Athener waren, dem Kleon bei Thukydides zufolge, theatai ton lοgon („Zuschauer der Worte“, 3,38,4).
Athen nahm eine Tradition auf, die bereits von der Macht der Sprache beeindruckt war, und fügte ihr ein politisches System hinzu, in dem die Sprache (Rhetorik!) von wesentlicher Bedeutung war. Sogar Platon, in vielerlei Hinsicht ein Antidemokrat, bezeichnet die Sprache als eine Art Instrument zur Organisation der Wirklichkeit (Kratylos 388b13): Das war sie sicherlich für die athenische Demokratie! Der letzte Weg, auf dem man sehen kann, dass die Tragödie lehren sollte, ist ein kurzer Blick auf die Kritik der großen Philosophen Platon und Aristoteles an dieser Gattung! Platon wollte die Tragödie – wie auch die meisten anderen Formen der Poesie! – aus seinem Idealzustand entfernen. Der Grund dafür war, dass erstens die Tragödie als Form der Mimesis eine zu indirekte Beziehung zur Wahrheit hatte; Platon erklärt sogar häufig, dass die Tragödie lügt.
Zweitens waren die Wirkungen der Tragödie in Platons Augen ausnahmslos verderb-lich. Für Platon sind die Tragödiendichter und ihr Publikum sehr an Vergnügen und emo-tionaler Reaktion interessiert (Neil Croally 1994, 23–26, gibt alle platonischen Referenzen an).
Was dem Philosophen in der Tragödie fehlt, ist jede Reflexion über moralisches Han-deln, das für ihn die wichtigste Frage war (Halliwell 1996).
Außerdem bedeutete der Kontext der Aufführung vor einem Massenpublikum, dass für Platon eine richtige Erziehung unmöglich war (Platon, Gorgias, 502b–e, Staat, 604 e, No-moi, 655e, 876b), da seiner Ansicht nach Bildung nur zwischen einem Schüler und einem Lehrer wirklich stattfinden kann (Platons Nomoi 666d–667a).
Man sieht jedoch bald, dass Platons Problem mit der Tragödie nicht darin besteht, dass sie nicht lehrt, sondern dass genau das von ihr erwartet wird. Er beklagt, dass die Tragödie schlechte Dinge lehrt, und sein Ehrgeiz ist es, ihren Platz als Hauptlehrer einzunehmen.

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