Audimax - Folge 29: Norbert Bolz: Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung in der Welt des Konsums

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Erstausstrahlung: Sonntag, 12. März 2023, 6:05 Uhr

mit Norbert Bolz

Kapitalismuskritik ist wieder in Mode. Die Propheten des Verzichts beherrschen die Bühne und machen unseren Konsumgewohnheiten ein schlechtes Gewissen. Norbert Bolz zeigt, dass diese Kritik das Wesen des modernen Menschen verkennt. Sein Weg der Selbstverwirklichung führt von den Bedürfnissen über die Wünsche zum Begehren nach Anerkennung. Wir wollen respektiert werden. Das zwingt uns zur Selbstdarstellung – und zwar im Medium des Konsums.

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Transkript:
Romane und Filme transportieren noch den amerikanischen Traum, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausfantasiert wurde. Es war der Traum vom Selfmade-Man. Es war die Verheißung der Chance, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden: Jedem, der tüchtig ist, steht die Tür zum Erfolg offen. Die älteren unter den Hörern werden sich noch an das deutsche Wirtschaftswunder mit dem Versprechen des Wohlstands für alle erinnern – die goldene Zeit der 50er und 60er Jahre, die der Nachkriegsgeneration plötzlich unglaubliche Konsumchancen geboten hat.

Eigentlich gilt das heute erst recht – aber die allgemeine Wahrnehmung ist doch eine sehr andere. Wir leben im Goldenen Zeitalter und merken es nicht. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich das Durchschnittseinkommen im Westen mindestens verdreifacht. Wir sind gesünder denn je, leben länger denn je, genießen eine unerhört lange Zeit des Friedens, sind weltweit mobil und haben märchenhafte Bildungschancen. Aber offenbar ist es sehr schwer, sich daran zu erfreuen. Seit Jahren dominiert in den Medien der Klageton, das Jammern über soziale Ungerechtigkeit, über den Werteverfall – und neuerdings wieder einmal die Prophezeiung vom Ende des Kapitalismus.

Pessimismus ist die Krankheit eines Zeitalters, das nicht mehr an den Fortschritt zu glauben wagt. Und immer mehr Leute scheinen eine Art Krankheitsgewinn aus dem Schwarzsehen ziehen zu wollen. Hoffnungslosigkeit verkauft sich gut.

Es gibt aber nicht nur diesen gelernten Pessimismus, sondern auch einen gelernten Optimismus. Jeder kennt das klassische Beispiel, nämlich zu lernen, dass ein Glas, das man für halb leer gehalten hat, in Wahrheit halb voll ist. Hierzu passt eine Einsicht der Psychoneuroimmunologie. Das ist eine noch recht junge Wissenschaft, die uns zeigt, dass Hoffnung heilt. Und das ist eigentlich auch für niemanden überraschend, der einmal den Placebo-Effekt erlebt hat – das Medikament wirkt, obwohl es gar keine Wirkstoffe hat – es wirkt also kraft des Glaubens. Manche Ärzte behaupten sogar, dass ein Placebo wirken kann, obwohl man weiß, dass es ein Placebo ist.

Optimismus kann man also lernen und üben. Wir alle wollen ja erfolgreich sein. Und man weiß heute, dass die wichtigste psychologische Bedingung für Erfolg die sagenannte „Selbstwirksamkeitsüberzeugung“ ist. Das lässt sich auch einfacher formulieren: Man muss sich selbst als Placebo nehmen. Mit anderen Worten: Hoffnung ist der archimedische Punkt des Erfolgs.

Der Optimist verleugnet die Realität aber nicht, sondern er ermöglicht sie überhaupt erst. Der amerikanische Philosoph und Psychologe William James hat dem eine ganz allgemeine Fassung gegeben: Wer daran glaubt, dass das Leben lebenswert ist, handelt so, dass das Leben lebenswert wird. Die Strategie der Hoffnung reagiert also nicht auf die Umwelt und passt sich auch nicht an sie an. Sie ist, wie man heute sagt: „proaktiv“.

Und so treffen wir immer häufiger auf Leute, denen es nicht mehr genügt, sich selbst zu verwirklichen, sondern die ihr Leben an Werten und sozialen Ideen orientieren wollen. Man kann diesen Trend mit dem Psychologen Abraham Maslow Selbsttranszendierung nennen. Was ist damit gemeint?

Der englische Philosoph Thomas Hobbes hat drei Bedürfnisse des Menschen unterschieden, nämlich Erfolg, Sicherheit und Anerkennung. Erfolg sucht der Mensch in der Wirtschaft, Sicherheit erwartet er vom Staat und Anerkennung erkämpft er sich im Sozialen. Vor allem dieses Begehren nach Anerkennung wird für die Kultur des 21. Jahrhunderts bedeutsam. Man kann sich das so erklären: Der Kapitalismus hat aus den Leidenschaften Interessen gemacht. Doch die verdrängten Leidenschaften kehren heute wieder, und zwar an der Spitze der Bedürfnispyramide, die Abraham Maslow beschrieben hat.

Jeder, der mit Psychologie oder Marketing zu tun hat, kennt diese Pyramide der Bedürfnisse, die nach einem einfachen Prinzip gebaut ist. Sobald die fundamentalen Bedürfnisse des Menschen wie etwa die nach Nahrung und Sicherheit dauerhaft befriedigt sind, entwickelt er höhere Bedürfnisse, zum Beispiel das Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung. An der Spitze der Pyramide steht dann der Wert der Selbstverwirklichung, der ja bis zum heutigen Tag von vielen Menschen in der westlichen Wohlstandswelt als unbezweifelbarer Spitzenwert verstanden wird.

Schaut man sich die Schriften von Abraham Maslow aber etwas genauer an, dann macht man eine verblüffende Entdeckung. In seinen letzten Lebensjahren hat Maslow an seinem Spitzenwert gezweifelt und gefragt, was jenseits der Selbstverwirklichung kommt. Die Antwort, die er tastend gefunden hat, lautet eben Selbsttranszendierung. Das klingt religiös und ist auch tatsächlich als eine Art Sakralisierung des Alltags gemeint. Das richtig verstandene Projekt der Selbstverwirklichung ist demnach eine Leiter, die man wegwirft, wenn man das Ziel erreicht hat. Der wichtigste Gedanke Maslows führt uns also zu der Paradoxie einer gelungenen Selbstverwirklichung als Selbsttranszendierung. Das bedeutet also: Das Selbst wird wirklich, indem es sich übersteigt.

I want to make a difference, sagen die Amerikaner: Ich will einen Unterschied machen, der für andere zählt. In Amerika ist das eine kulturelle Selbstverständlichkeit. Dabei geht es um den Anspruch auf die eigene Würde und den Wunsch, etwas erkennbar zu bewirken. Und auch in Europa wollen immer mehr Menschen "einen Unterschied machen".

Dieser Lebensstil ist eine Reaktion auf die Herausforderungen der modernen Gesellschaft. Sie stellt enorme Anforderungen an den Menschen von heute. Erfolgreiche Menschen müssen vor allem die Fähigkeiten der Flexibilität, Mobilität und Erreichbarkeit entwickeln. Sie sollen wissenschaftlich neugierig, unternehmerisch mutig und politisch lernfähig sein. Diesen Erwartungen entspricht das typisch amerikanische Selbstbild: Ich kann alles, ich bin jeder Rolle gewachsen. Ich lebe mein Leben als Selbstversuch.

Wenn diese Beschreibung unserer modernen Lebensbedingungen richtig ist, dann lautet die entscheidende Frage: Was ist wichtig? Wie finde ich mein Lebensthema? Man könnte sagen: Nicht zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden zu können, ist das Wesen der Dummheit. Vor allem gilt es zu verstehen, dass das, was informativ ist, nicht auch schon wichtig ist - und dass nichts aus sich selbst heraus wichtig ist. Das wird immer dann deutlich, wenn wir Sorgen haben. Denn die Sorge produziert die Wichtigkeit – wichtig heißt nämlich immer: wichtig für mich. Das Wichtigste ist deshalb, zu verstehen, was einem wichtig ist. Alles, was wir tun, besteht aus riskanten Entscheidungen. Wir müssen uns deshalb immer zwei Fragen stellen: Was ist richtig? Und: Was ist mir wichtig?

Man kann es auch so sagen: Jeder einzelne muss sich eine Lebensrolle definieren. Der Mensch ist nicht einfach mit sich selbst identisch - er muss seine Identität erst leisten. Und jede Identität entsteht im dem Versuch, das Chaos zu kontrollieren. in einfaches Beispiel. Wenn man morgens aufwacht, rekonstruiert man die eigene Identität. Wo bin ich gerade? Im Hotel. Und warum? Dieses private Chaos wird noch durch das soziale Chaos gesteigert, das durch die Kontrollversuche der anderen entsteht. Es gibt in unserem Alltag zwar keinen Kampf auf Leben und Tod und auch keinen Klassenkampf mehr, wohl aber Kontrollkämpfe. Jede Selbstbehauptung ist ein solcher Kontrollkampf, der sich in Geschichten darstellt. Wilhelm Schapp hat sehr schön gezeigt, wie der Mensch in Geschichten verstrickt ist. Und sein zentraler Satz lautet: Der Mann ist seine Geschichte. Das gilt natürlich auch für die Frau.

Den klassischen Fall stellt der Lebenslauf dar: Der Mann ist seine Geschichte. Die Frau ist ihre Geschichte. Wer etwa im Rahmen einer Bewerbung seinen Lebenslauf verfasst, weiß natürlich, dass er nicht frei fantasieren kann; der Lebenslauf muss glaubwürdig sein und darf keinen Widerspruch finden. Und dennoch: Jeder Lebenslauf ist ein Drehbuch, das man schreibt. Und das gilt für die Identitätsbildung überhaupt: Man kann nur leben, wenn man sich eine Rolle definiert.

Es ist deshalb ein Missverständnis zu glauben, der echte Mensch wäre hinter der Maske. Das Selbst ist der dramatische Effekt des Alltagstheaters. Man spielt die Rolle, man selbst zu sein. Und diese Selbstdarstellung ist die Grundlage des sozialen Vertrauens. Persönlichkeit ist eine ununterbrochene Reihe erfolgreicher Gesten, hat der Dichter Scott Fitzgerald einmal gesagt. Und das bedeutet, dass die Würde des Menschen, die ja „unantastbar“ sein soll, das Resultat seiner gelungenen Selbstdarstellung ist.

Die aktuellste Form dieser Selbstdarstellung präsentiert uns das Internet. YouTube, Instagram und Twitter zeigen uns reine Formen einer öffentlichen Zurschaustellung von Identität. Statt das „wahre“ Selbst zu entdecken, geht es darum, ein interessantes Selbst zu erschaffen. Anprobieren – das macht man heute nicht mehr nur mit Kleidern, sondern auch mit Lebensstilen und Weltanschauungen. Viele, vor allem junge Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind und es als eine zweite Natur erfahren, können mit unseren klassischen Begriffen von Privatsphäre und Intimität gar nichts mehr anfangen. „Deutschland sucht den Superstar“ und andere Casting-Shows im Fernsehen, YouTube und Instagram signalisieren Exhibitionismus und Voyeurismus als neuen Megatrend.

Doch was steckt dahinter? Die Internet-Kids reagieren unbewusst auf die neuen Anforderungen der modernen Gesellschaft. Ob du einen Job bekommst, hängt in Zukunft vielleicht weniger von deinem Bewerbungsschreiben als von den Datenspuren ab, die du im Netz hinterlässt. Der Arbeitsmarkt wird im 21. Jahrhundert zum Persönlichkeitsmarkt. Die Arbeit des 21. Jahrhunderts findet gleichsam auf einer Bühne statt, und Selbstmarketing ist heute die Bedingung für geschäftlichen Erfolg. Verkauf’ deine Identität! Mach’ dich selbst zur Marke!

Muster und Drehbücher dafür beziehen die Jugendlichen heute vor allem aus der Welt der Stars und Prominenten. Wie das funktioniert, kann man sich an der Doppeldeutigkeit des Begriffs „Markenpersönlichkeit“ klar machen. Ursprünglich war damit ja gemeint, dass es dem Marketing gelingen sollte, einem Produkt die Prägnanz und Ausstrahlungskraft einer Persönlichkeit zu verleihen. Doch heute gilt auch das Umgekehrte: „Personal Brands“ sind Menschen, die von erfolgreichen Markenprodukten gelernt haben, wie man Kunden fasziniert.

Das Leben eines Menschen ist die Erforschung eines Wertefeldes. Noch wichtiger als zu bekommen, was wir uns wünschen, ist, herauszufinden, was wir uns wirklich wünschen. Und wichtiger als die eigenen Vorlieben ist das, was man glaubt, wünschen zu sollen. Deshalb singt schon Papageno in der „Zauberflöte“: „Ich möchte – ich wünschte – ja was denn?“

Wünsche und Vorlieben entstehen nicht aus der Seele oder aus dem Bauch, sondern aus der sozialen Situation. Diese Wünsche können zwei extreme Formen annehmen, nämlich erstens: Ich will anders sein als die anderen. Dieser Wunsch wird von der Mode erfolgreich bedient. Und zweitens: Ich will anders sein als ich selbst bin.

Jeder der sich für Wirtschaft interessiert, kennt Abraham Maslows Bedürfnishierarchie; und jeder, der sich für Philosophie interessiert, kennt Max Schelers Stufenordnung der Werte. Beide Schemata besagen dasselbe: Der Mensch klettert auf der Leiter des Konsums vom Nützlichen zum Heiligen, von der Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse zum spirituellen Mehrwert. Diese Beobachtungen sind richtig, aber weder Scheler noch Maslow können erklären, wie sich dabei die Identität des Menschen verändert.

Ich schlage hier zur Erklärung ein Dreistufenmodell vor: zunächst kommen die Bedürfnisse, dann die Wünsche und schließlich das Begehren nach Anerkennung. Das Bedürfnis ist das Thema der Ökonomie, der Wunsch ist das Thema der Psychologie und das Begehren nach Anerkennung ist das Thema der Soziologie.

Sehen wir uns zunächst die Bedürfnisse an. Sie entstehen aus einem Mangel, und man kann deshalb immer klar sagen, was einem fehlt. Das ermöglicht das Bild des „Homo oeconomicus“, der den Markt betritt, die Angebote prüft und eine rationale Kosten-Nutzen-Kalkulation anstellt. Am Ende hat er ein Produkt gekauft, das sein Bedürfnis befriedigt. Das ist das klassische Bild der Wirtschaft als System der Bedürfnisse.

Wünsche haben eine ganz andere Logik. Man kann nie genau sagen, was man sich zutiefst wünscht, denn Wünsche sind unbewusst – und sie sind unerfüllbar. Dass Wünsche unbewusst sind, heißt, dass man sie nicht rational kontrollieren kann. Ich bin nicht Herr meiner Wünsche. Und dass Wünsche unerfüllbar sind, heißt, dass es kein Ende des Konsumierens gibt. Denn immer dann, wenn ich das bekomme, was ich mir gewünscht habe, stellt sich die Melancholie der Erfüllung ein, also das Gefühl „Das ist es doch nicht!“ Deshalb muss ich es mit dem nächsten Auto, mit der nächsten Reise, oder der nächsten Frau versuchen. Das ist das Szenario der Wunschökonomie einer Wohlstandgesellschaft.

Dass Wünsche unerfüllbar sind, liegt daran, dass sie nur Stellvertreter eines Begehrens sind, das unser ganzes Leben beherrscht: das Begehren nach Anerkennung. Ansehen ist der reinste Wert. Wir sind eben durch und durch soziale Wesen und brauchen die Anerkennung der anderen wie die Luft zum Atmen.

Über Bedürfnisse kann man sich also Rechenschaft ablegen. Man weiß, was man braucht, und kann die Angebote des Marktes, also das Preis-Leistungs-Verhältnis rational kalkulieren. Bedürfnisse kann man befriedigen. Wünsche dagegen sind, wie gesagt, unbewusst und unerfüllbar. Niemand weiß wirklich, was er sich wünscht. Und wer glaubt, den Markt der Zukunft erforschen zu können, indem er Kunden fragt, was sie sich wünschen, ist ein Narr.

Weil also die tiefsten Wünsche nicht erfüllt werden können, bekommen wir immer etwas statt dessen. Deshalb kaufen sich Menschen Dinge und Leistungen, die sie gar nicht brauchen. I can't get no satisfaction – das ist das ganze Geheimnis des Begehrens. Mit anderen Worten: Das Begehren des Menschen zielt immer auf etwas, das nicht benennbar ist. Und deshalb muss man kaufen und kaufen und kaufen. Geschmack, Wünsche und Vorlieben entstehen nicht im einzelnen Menschen, sondern aus der sozialen Situation.

Je höher der Kunde nun auf Abraham Maslows Bedürfnispyramide steigt, desto instabiler werden die Wünsche. Deshalb wird der Anbieter Erfolg auf den Märkten der Zukunft haben, der Wünsche ändert – statt sie nur temporär zu befriedigen. Wichtiger als die Bedürfnisbefriedigung wird das Experiment mit den Wünschen. Der Vorrang des Experiments vor der Befriedigung schließt aber Genuss nicht aus. Man kann natürlich ganz einfach Produkte und Dienstleistungen genießen, ein Bier etwa, oder eine Massage - das ist trivial. Gebildete haben darüber hinaus von den Romantikern gelernt, dass man den Genuss selbst genießen kann. Und Ungebildete lernen durch Weight Watchers und Low-Fat-Produkte, dass man das Genießen kontrollieren kann.

Die Kunden erwarten heute vom Markt, was sie sich früher von der Kunst und von der Religion erhofft haben. Shopping ist die Erziehung des Gefühls für die Welt des 21. Jahrhunderts. Man lernt, was „in“ ist und erkundet ein Wertefeld. Wir gehen einkaufen, um herauszufinden, was wir wollen. Und wenn man wählt, entdeckt man ein Ziel.

So gibt es heute Limonade für eine bessere Welt und ein Bier, durch dessen Konsum man den Regenwald rettet. Naturschutz ist der mittlerweile weltweit etablierte Kult der „Grünen“, die uns lehren wollen, die Schöpfung zu bewahren, statt auf die Erlösung zu hoffen. Das ist der Weg zur Religion der Einfachheit, die Reinheit und Orientierung verspricht. Es handelt sich hier um ein neues Glaubensangebot für die gebildete Mittelklasse, in dem man bei Bedarf auch Technikfeindlichkeit, Antikapitalismus und Aktionismus unterbringen kann.

Hausmüll trennen, Wasser sparen, auf Plastiktüten verzichten, das Hotelhandtuch mehrfach benutzen – das sind nur einige der vielfältigen Möglichkeiten, etwas für die Umwelt zu tun. Das hilft vielleicht nicht der Natur, aber in jedem Fall der Seele.

Nach der ökologischen Sorge um die Natur „da draußen“ kümmern wir uns nun aber auch um die Natur in uns selbst. Im Gegensatz zu anderen Gütern ist der eigene Körper unersetzlich. Hier funktioniert das Wegwerfsystem definitiv nicht. Ähnlich wie Bildung und Gerechtigkeit ist Gesundheit etwas „wahnsinnig Wichtiges“, von dem aber niemand genau weiß, was es ist. Hinter der Sorge für die Gesundheit steckt eigentlich die Suche nach dem Heil. LOHAS lautet seine Abkürzung. Sie signalisiert den wahren Luxus des 21. Jahrhunderts: Lifestyle of Health and Sustainability. Zu Deutsch: Der Lebensstil der Gesundheit und Nachhaltigkeit.

Unsere Kultur der virtuellen Räume im Internet ist deshalb zugleich auch eine Kultur des Körperkults. Es gibt hier einen engen Zusammenhang zwischen Medizin, Schönheitschirurgie, Gentechnik, Diät, Fitness, Wellness und Kosmetik. Alle arbeiten an einer Optimierung des Körpers, alle versprechen Gesundheit und Schönheit. Wer seinen Körper heute intensiv pflegt, macht ihn zum Zentrum eines Kults, zum Schauplatz des Lebenssinns.

Immer mehr wächst die Angst um den eigenen Körper. Bei allem, was man isst und einatmet, bei jeder Strahlung, der man sich aussetzt, mahnt ein Experte zur Vorsicht. Wir können deshalb vermuten: An der Grenze zwischen Körper und feindlicher Welt werden die Geschäfte der Zukunft gemacht. So hat Anita Roddick schon vor Jahrzehnten ihre Leidenschaft für Erziehung und die Sorge um den Kunden als Geheimnis von „Body Shop“ enthüllt. Der Kunde wird zur Sorge um sich erzogen.

Bei dieser Sorge um den eigenen Körper geht es nicht nur um Gesundheit, sondern auch um Schönheit, also die Spiritualität für die Sinne. Im Kampf um Anerkennung wird Schönheit in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen. Welche Sprengkraft in dem Megatrend Beauty steckt, wird deutlich, wenn man erkennt, dass Schönheit die Ungerechtigkeit der Natur ist. Schönheit kann man nicht umverteilen. Deshalb kämpft die Politische Korrektheit heute gegen das Schönheitsvorurteil. Doch dieses Vorurteil für die Schönen wird in Zukunft immer mächtiger werden. Das gilt schon aus ökonomischen Gründen, denn Schönheit signalisiert Fitness.

Der Körper ist heute das überzeugendste Bild der eigenen Identität. Deshalb wird der Designer-Body zum Statussymbol. Hier gilt die Gleichung Selbstwertgefühl = Ansehen = Aussehen. Ansehen heißt ja: wie man gesehen wird. Und Ansehen und Aussehen fallen zusammen im Sich-sehen-lassen-Können. Konkreter als in der Sorge um die Schönheit des eigenen Körpers lässt sich das Begehren nach Anerkennung nicht fassen. Das Aussehen bestimmt das Ansehen.

Vor Jahrzehnten hat der große Soziologe Erving Goffman mit dem Buch Wir alle spielen Theater einen Bestseller gelandet. Was darin über die Darstellung des Selbst im Alltagsleben steht, ist auch heute noch aktuell. Doch wir haben seither einen weiteren Schritt im Kampf um Aufmerksamkeit gemacht. Erst wurde das Selbst im Alltag präsentiert und nun wird es auf dem Persönlichkeitsmarkt verkauft.

Selbstmarketing ist eine Kunst, die heute schon die auf der digitalen Welle surfenden Jugendlichen lernen. Soziale Netzwerke im Internet dienen nicht nur zur Kommunikation sondern auch zur Positionierung. Und das kann über Erfolg und Misserfolg im Berufsleben entscheiden. Die Kunst des Selbstmarketing besteht darin, aus sich selbst eine Marke zu machen. So emanzipiert sich der Politiker von seiner Partei, der Professor von seiner Universität, der Journalist emanzipiert sich von seiner Zeitung und der Fußballspieler von seiner Mannschaft. Deshalb werden Headhunter, Talentscouts und andere Experten der Star-Suche immer wichtiger.

Es ist schon vielfach bemerkt worden, dass wir in ein Zeitalter der postökonomischen Werte eingetreten sind. Die Leute interessieren sich immer mehr für das gute Leben, öffentliche Güter, gerechte Verfahren, ethisches Einkaufen, für freiwilliges Engagement und die soziale Dynamik der Non-Profit-Organisationen und Nicht-Regierungs-Organisationen. Je mehr sich der Kapitalismus als der große Gleichmacher der materiellen Lebensbedingungen bewährt, umso mehr drängen sich die nichtmateriellen Aspekte des guten Lebens in den Vordergrund der Aufmerksamkeit, vor allem das Prestige und das Privileg.

Das hat unmittelbare Auswirkungen auf das Verhältnis von Einkommen und Status. Der Ökonom und Mathematiker Vilfredo Pareto hat als erster gesehen, dass überall da, wo die Einkommensunterschiede reduziert werden, die Menschen nach Ungleichheit in Macht und Status streben. Es geht dann primär um den Wunsch, anders zu sein und die Ungleichheit zu genießen. Das heißt, es geht um die Aneignung differenzierender Merkmale, auf die das eigene Selbstwertgefühl gestützt werden kann.

Im Konsumverhalten zeigt sich das im sogenannten Ethical Shopping, also einem moralischen Einkaufen. Statt politisch wählen zu gehen, drücken immer mehr Bürger ihre Meinung durch ihr Kaufverhalten aus. Kunden bestrafen unmoralische Unternehmen. Und das ist möglich, seit sich die öffentliche Weltmeinung online bildet. Die Globalisierung prägt nun auch die Dynamik sozialer Bewegungen. Der Bürger, der sich heute politisch engagieren, also einen Unterschied machen will, geht nicht mehr in die Politik, denn die ist viel zu komplex geworden. Stattdessen geht er auf den Markt der Sorge, der so kleinteilig und einfach ist, dass man mit jedem Konsumakt und jeder Spende die Welt verbessern kann. Man kauft einen Kasten Bier und rettet damit ein paar Quadratmeter Regenwald in Brasilien.

Das ist die ethische Dimension der Globalisierung. Doch die ist nicht nur ein technisch-ökonomischer Segen, sondern auch eine Überforderung des einzelnen. Das Leben im Zeitalter des Internet ist durch eine allgemeine Entortung charakterisiert, weil in sozialen Netzwerken das Kooperieren der Menschen nicht mehr raumgebunden ist. Doch diese neuen virtuellen Lebensräume fordern als menschlichen Ausgleich architektonische Kultorte. Ich meine damit die großen Plätze in Städten wie Paris oder Rom, die Fußball-Arenen, die Freizeitparks, - kurzum: die Abschirmung kleiner Paradiese.

Der Begriff Abschirmung ist hier ganz wörtlich zu nehmen. Das Zeitalter der virtuellen Gemeinschaften im Internet ist nämlich auch das Zeitalter der Hochsicherheitszonen im sozialen Raum. Hier geht es um das Bedürfnis nach Hegung im ganz handfesten Sinn – die Abschirmung der Privatsphäre durch Zaun, Stacheldraht und Sicherheitsbeamte. Nach innen arbeitet diese Abschirmung mit den menschenfreundlichen Qualitäten eines emotionalen Designs, für das die Trendforscherin Faith Popcorn schon vor Jahrzehnten den anschaulichen Begriff Cocooning gefunden hat. Das Paradies wird konkret als Garten angelegt – oder doch zumindest als floristisches Kunstwerk in die Wohnung hineinkopiert. Dem entspricht auch der sogenannte Nesting-Trend, also die Konjunktur der Koch-Shows im Fernsehen und das wiedererwachte Interesse fürs Stricken oder Pflanzen. Es geht hier immer um Beruhigung und Entschleunigung.

Aber es geht hier eben auch um Fragen der Identität. Was bedeutet Sein in Räumen im Zeitalter der virtuellen Realitäten? Was bedeuten Kultorte im Zeitalter mobiler Kommunikation? Der amerikanische Investmentbanker und Trendforscher William Knoke hat mit seinem Begriff der ortlosen Gesellschaft unterstellt, es sei für die produktiven Menschen des 21. Jahrhunderts völlig gleichgültig, wo sie sich konkret aufhalten. Was zählt sei Erreichbarkeit, nicht Anwesenheit. Das klingt für technisch denkende Menschen ganz logisch. Aber es ist in dieser Ausschließlichkeit schlicht falsch. Wir müssen nämlich begreifen, dass die Entwicklung der neuen Medien und die wirtschaftliche Globalisierung für den Menschen nicht nur unerhörte neue Lebenschancen bieten, sondern ihn auch psychisch überfordern.

Für die Zumutungen der Internet-Gesellschaft brauchen Menschen einen Ausgleich – sie brauchen eben wertvolle Orte der Identität. Mit anderen Worten: Wir brauchen Kultorte gerade deshalb, weil es rein technisch gesehen in der modernen Funktionswirklichkeit immer unwichtiger wird, wo ich wohne. Gerade weil sich die entscheidenden Prozesse unseres Lebens und Arbeitens in Immaterialitäten und Kommunikationen auflösen, brauchen wir Kultorte als Schauplätze des Sinns.

Nicht William Knoke mit seiner These von der ortlosen Gesellschaft hat also recht, sondern der an der Universität von Toronto lehrende Richard Florida, der auf seiner Suche nach den Geheimnissen der Kreativität auf die Bedeutung von Städten gestoßen ist. Gerade in einer globalisierten Welt wird die Bedeutung des geographischen Ortes nicht schwinden, sondern wachsen. Die Stadt, in der wir leben, entscheidet mit über unsere Identität. Deshalb ist die Frage, wo ich lebe, eine der wichtigsten Lebensentscheidungen überhaupt. In Metropolen konzentrieren sich Energie und Talent, und das führt zu urbanen Austauschprozessen, die die Kreativität jedes Einzelnen steigern.

Kultorte sind Attraktoren. Es wird zwar immer viele Menschen geben, die leben, wo sie leben, weil sie dorthin „geworfen“ wurden. Aber immer mehr Menschen – und zwar gerade die kreativsten und produktivsten – leben, wo sie leben, weil sie diesen Ort „gewählt“ haben.

Richard Florida geht so weit, zu behaupten, die Identität eines Ortes hänge nicht an seiner architektonischen Substanz, sondern an seinem Klima der Vielfältigkeit und Toleranz für alternative Lebensstile. Das ist natürlich übertrieben. Es gibt kein Urbanitätserlebnis ohne großartige Architektur. Frank Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao hat ja umgekehrt gezeigt, dass eine Stadt, die für Außenstehende bisher nur ein Fleck auf der spanischen Landkarte war, durch ein einziges faszinierendes Gebäude zum Kultort werden kann.

Gerade kulturkritischen Intellektuellen fällt es schwer, das zu begreifen. Es gibt nämlich bei ihnen einen anti-monumentalen Affekt. Er ist mindestens so alt wie das moderne Amerika mit seiner chromblitzenden Schönheit der Straßenkreuzer, der Erhabenheit transparenter Stahlbrücken und den kathedralischen Türmen Manhattans. Europäische Intellektuelle haben auf solche Metropolen immer schon empfindlich reagiert und im Monumentalen gleich das Monströse gesehen. Soweit der anti-monumentale Affekt spezifisch deutsch gefärbt ist, geht er natürlich auf unseren nachträglichen Antifaschismus zurück. Nie wieder Albert Speer! Unsere Architekten sollten aber heute endlich anerkennen, dass Größe imponiert, dass es eine Lust am Erhabenen gibt. Und an dieser Stelle muss man gegen den Kiez-Fetischismus der Intellektuellen einmal ausdrücklich festhalten: Es gibt keine Urbanität ohne Monumentalität.

Man spottet in kulturkritischen Kreisen gerne über Städtetouristen, aber sie haben ein untrügliches Gespür für die Faszinationswerte des Monumentalen. Es geht um Machtarchitektur, Repräsentationsbauten, kurz: um Architektur jenseits des Menschenmaßes. Monumentalität heißt nämlich vor allem Größe, und dem Effekt der Größe kann sich niemand entziehen.

Der Kampf um die Aufmerksamkeit der Bürger wird durch die großen urbanen Ikonen entschieden. Das haben uns die Terroristen des 11. September 2001 ins Bewusstsein gebrannt. Der Angriff galt ja der Ikone des Weltkapitals. Ausgelöscht wurden nicht nur dreitausend Menschenleben und zwei babylonische Türme. Es ging den Terroristen vor allem darum, die westliche Zivilisation symbolisch zu zerstören.

Leider ist das Bewusstsein der meisten deutschen Architekten nicht nur durch einen anti-monumentalen Affekt, sondern auch durch einen anti-kommerziellen Affekt blockiert. Eine wesentliche Dimension der heutigen Architektur ist aber gerade die Ikonographie des Konsumismus. Mit anderen Worten: Der Markt ist der unsichtbare Architekt unserer Städte. Und wo die Städte hässlich sind, rächt es sich eben, dass die Architekten diese Welt des Konsums immer nur verachtet haben – es käme heute darauf an sie zu verändern. Kluge Köpfe aus der bauenden Zunft wie Jon Jerde und Rem Koolhaas haben erkannt, dass die Wiederbelebung der Stadt von den öffentlichen Räumen ausgehen muss, in denen wir konsumieren und uns vergnügen.

Ein erfolgreicher Oberbürgermeister verkauft heute seine Stadt auf dem Markt der Gefühle. Das nennt man Stadtmarketing. Und bei dem Versuch, eine Stadt als Marke zu positionieren, spielt die Architektur die Schlüsselrolle.

Wenn man in ein Café geht, ist man nicht primär an Kaffee interessiert, sondern an den Leuten, der Atmosphäre, der Gelegenheit zum Gespräch. Schon Montaigne wusste, dass es nicht wichtig ist, was man isst, sondern mit wem man isst.

So bitter die Einsicht für künstlerische Architekten und Romantiker der bürgerlichen Öffentlichkeit sein mag: Shopping ist heute die wichtigste öffentliche Handlung – und damit das eigentliche Organisationsprinzip einer Stadt. Shopping ist die Energie, die das Urbanitätserlebnis in reiner Form ermöglicht. Mit anderen Worten, Urbanität ist das eigentliche Thema des Shopping. Und hier ist nun eines entscheidend: Urbanität ist ein Gefühl, das man gestalten kann. Der amerikanische Architekt Jon Jerde hat das „Heartmaking“ genannt. Das ist natürlich ein Kunstwort, das analog zu dem vertrauten Begriff „Sensemaking“, also Sinnstiftung, gebildet ist. Es geht beim „Heartmaking“ um den bedeutungsvollen Bezug des Menschen zu einem konkreten Ort, der ein Gefühl der Zugehörigkeit und des guten Lebens verschafft. Genau das habe ich mit dem Begriff des Kultorts und seiner Funktion des menschlichen Ausgleichs gemeint.

Man könnte auch sagen: In den Metropolen des 21. Jahrhunderts werden die Kaufhäuser zu Tempeln – und die Tempel zu Kaufhäusern. Sie verwandeln sich in Schauplätze einer Wiederverzauberung der Welt, nach der wir uns gerade deshalb sehnen, weil jede Spur von Magie, Aura, Charisma und Zauber aus unserem aufgeklärten Alltag getilgt ist. Die Botschaft ist klar: Kaufen soll ein magisch-religiöses Ritual werden. Deshalb gibt es heute die Gesamtkunstwerke des Konsums: Kaufen, Essen, Amüsieren. Sie rechtfertigen die Welt als ästhetisches Phänomen.

Es gibt offenbar eine Strukturverwandtschaft zwischen Marktplatz, Spielplatz und religiösem Kultort. Der amerikanische Soziologe Marc Gottdiener hat die These aufgestellt, dass wir es nach der Verdrängung des Symbolischen und Bedeutsamen durch Sachlichkeit und Funktionalismus heute mit einer Wiederkehr des Verdrängten zu tun haben. Und zwar kehrt das Verdrängte in Form von Themenwelten wieder. Themenwelten bieten eine surreale Verdichtung des Erlebnisses. Ihre inszenierten Ereignisse erlebt man gewissermaßen "wirklicher" als die Wirklichkeit. Themenwelten bieten also Ersatzerfahrungen, die gar nicht nach Ersatz schmecken, sondern sie schmecken intensiver, weil sie kompakter und störungsfreier als die Wirklichkeit sind.

Walt Disney hat sein großes Konzept Imagineering einmal so definiert : Was wir verkaufen, ist der Glaube an die Phantasie und das Geschichtenerzählen. Die Wirtschaft hat diese Lektion gelernt und entfaltet heute einen Markt der Gefühle, auf dem die Unternehmen einen Wettbewerb der Geschichten veranstalten. Eine Ware auf dem Markt zu positionieren, d.h. ihr einen Platz zu schaffen - das geht nur durch eine Story. Und ganz entsprechend kauft der postmaterialistische Kunde keine Güter, sondern Geschichten, Gefühle, Träume und Werte. Wenn man schon alles hat, was man braucht, wird man erst richtig sozial. Das hat einen ganz einfachen Grund: Leute interessieren sich für Leute, d.h. für Geschichten. Und man sucht diese Geschichten nicht mehr nur in Büchern oder Filmen, sondern vor allem in Konsumgütern.

Eine ähnliche Möglichkeit der Wiederverzauberung bieten unsere Städte auch in der Kultur der Festivals. Diese funktionieren ähnlich wie Mode und Kosmetik bei Frauen. Das Festival ist Spektakel, Event und Ritual zugleich. Als Spektakel befriedigt es die Schaulust und Neugier, als Event beschwört es die Aura des Einmaligen und als Ritual verspricht es Sinnstiftung. Nirgendwo wird die Glücksverheißung der großen Stadt deutlicher: Sie bietet komprimierte Lebenschancen.

Wenn man sich das vor Augen hält, wird auch klar, dass der Niedergang von Kaufhof und Karstadt meine Überlegungen nicht dementiert, sondern bestätigt. Und auch unsere Schein-Metropole Berlin ist nur das Negativbeispiel, das meine Thesen zur Urbanität gerade unterstreicht. So hat die rot-rot-grüne Regierung in Berlin ja versucht, Urbanität zu erzwingen, indem man die Friedrichstraße in eine Fußgängerzone verwandelt hat. Und damit hat man das Ziel grandios verfehlt. Der Soziologe Arnold Gehlen hat demgegenüber die folgenden Bedingungen für Urbanität genannt: Mischung statt Funktionentrennung, volle Straßen, hohe Kontaktfrequenz der Menschen untereinander, leichte Erreichbarkeit von Museen und Kinos, Quartier-Charakter, Mischung von Weltstadtatmosphäre und Kleinklima, Konservierung von Altbauten - und nutzlose Repräsentativbauten. Nach fünfzig Jahren Berlinerfahrung bin ich geneigt zu sagen: Wenn Berlin noch zu retten ist, dann nur so.

Ähnliches kann man über den grünen Traum von der autofreien Stadt Berlin sagen. Er verkennt nämlich völlig, was das Auto für den Bürger bedeutet.

Als Lustobjekt ist das Auto das Erlebnis als Ware. Oder genauer gesagt, es funktioniert wie ein Fetisch als Schlüssel zur Erlebniswelt. In diesem Sinne wollte die Autostadt in Wolfsburg für die Welt der Mobilität genau das sein, was Niketown in Chicago für die Welt des Sports ist. Natürlich würde kein Mensch freiwillig nach Wolfsburg fahren; aber Millionen fahren freiwillig in die Stadt in der Stadt, von der Klaus Kocks, der frühere Generalbevollmächtigte für Öffentlichkeitsarbeit bei VW, sehr schön gesagt hat: "Wir erzählen den Menschen das Märchen von der Mobilität. Alle Lebenstile dieser Welt sind für jeden erreichbar." So Klaus Kocks. Wie Niketown ist die Autostadt in Wolfsburg ein Tempel der Lebensstile, in dem man ernst macht mit Otl Aichers Einsicht (ich zitiere): "Das Auto ist ein Anbetungsgegenstand, der auch eine Art Altardesign braucht."

Solche Kunststädte in der Stadt sind keine Verkaufsflächen, sondern Schauplätze einer religiösen Inszenierung des spirituellen Mehrwerts. Markenprodukte besetzen Ideen, um sie schließlich zu ersetzen. Freiheit, Individualität und Mobilität heißen dann konkret: Auto. Es genügt, einen Werbeblock im Abendprogramm des Fernsehens zu betrachten, um zu verstehen, wie das Auto als Symbol von Freiheit, Abenteuer, Emanzipation oder Familienglück funktioniert. Aber die zentrale Botschaft all dieser Verheißungen lautet: Autonomie im Automobil.

Deshalb werden Busse und Bahnen immer unattraktiv bleiben. Otto Julius Bierbaum sagte schon vor über 100 Jahren: "Wir werden nie Gefahr laufen, mit unausstehlichen Menschen in ein Kupee gesperrt zu werden. Wir werden selber bestimmen, ob wir schnell oder langsam fahren, wo wir anhalten, wo wir ohne Aufenthalt durchfahren wollen." So Bierbaum, der Goethes Italienische Reise im Auto nachgefahren war. Er genoss die "Wollust dieses Dahinrollens" so sehr, dass das scheinbare Ziel, nämlich Rom, nur noch die Unruhe in ihm weckte, sofort weiterzufahren. Seither gilt für den wahren Autofahrer, der Freude am Fahren hat: Der Weg ist das Ziel. Man fährt mit wem man will, wann man will und wohin man will. Allein schon die Emanzipation vom Fahrplan macht Autofahren als Machtpraxis des kleinen Mannes kenntlich. Der demokratische Luxus Freizeitverkehr ist deshalb ein ewiges Ärgernis für die Verkehrsplanung und ein Skandal für die ökologische Vernunft.

Wer gerne Bus oder Bahn fährt, wird den Autofahrer nie verstehen. Er versteht vor allem nicht, dass es beim Autofahren nicht nur um Fortbewegung, sondern auch um Selbstdarstellung im Alltagsleben geht. Autos machen Leute. Deshalb appelliert die Werbung auch längst nicht mehr an den technischen Sachverstand, sondern setzt auf Emotional Design und ködert Gefühle.

Es geht hier um den von Faith Popcorn beschriebenen Effekt des Cocooning, aber unter den Bedingungen absoluter Mobilität. Das Auto ist das bewegte Heim, die kontrollierte Insel im Chaos der modernen Gesellschaft. Und hier versagen die öffentlichen Verkehrsmittel völlig. Während einem die Mitmenschen in Bus und U-Bahn auf den Leib rücken, garantiert das Auto die Sicherheitszone des Menschen. Es bietet dem Ritter der Massendemokratie Pferd und Rüstung zugleich. Deshalb hinkt der beliebte Vergleich mit dem Panzer des Käfers. Immerhin macht er deutlich, dass der Autofahrer nach Schutz und Aggression gleichermaßen verlangt. Oder um es mit den unsterblichen Worten von Otl Aicher zu sagen: Der Autofahrer will "das Sofa als Rakete".

Spätestens jetzt, verehrte Hörer, werden Sie mir vielleicht vorwerfen, das sei doch einfach nur ein unverhohlenes Lob des Konsumismus. Das trifft in gewisser Weise auch zu. Aber unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft ist eben nur ein einziger Lebensstil massendemokratisch möglich, nämlich der Konsumismus. Der Konsumismus ist das Immunsystem der modernen Gesellschaft gegen den Virus des Fanatismus und die Drohung der Langeweile. Die Apologie dieses Lebensstils, die ich hier geboten habe, muss nicht die Augen verschließen vor den Folgelasten der Modernisierung, also vor den Ausschlussmechanismen unserer westlichen Rationalität und den Schicksalen der Globalisierungsopfer. Und auch die immanenten Schwächen des konsumistischen Lebensstils liegen seit langem offen zutage – er hat vom Streben nach dem Glück ja eigentlich nur das Glück des Strebens übriggelassen. Heute wäre es aber an der Zeit, die Stärke in diesen Schwächen zu erkennen.

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