Germanische Rechtsauffassungen

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Germanische Rechtsauffassungen
Die verfassungsmäßige Beschränkung der staatlichen Gewalt durch die Stände war eine der Bürgschaften, welche das germanische Recht zum Schutz der wohl erworbenen Rechte der Volksgenossen gegen willkürliche Verletzung aufstellte. Sie hing auf das innigste zusammen mit der ganzen germanischen Auffassung vom Wesen des Rechtes, der Freiheit und der Ehre und dem Verhältnis des Rechtes zum Staat.

Ausgehend von der Voraussetzung einer höheren Weltordnung, leitet die germanische Rechtsanschauung alles recht von Gott ab und will das ganze Rechts- und Staatsleben auf die Abhängigkeit des Menschen von Gott gegründet wissen.

Das Recht ist eine ewige Anordnung Gottes
Ihr gemäß ist das Recht nicht eine bloße Regel, welche die Menschen sich selbst um ihres persönlichen Nutzens willen gesetzt haben, sondern ein Erzeugnis göttlichen Willens, eine Ordnung, die wie das Sittengesetz ihren Ursprung in Gott hat.

Darum beginnt der Sachsenspiegel die Darstellung des Rechtssystems mit der Darstellung der göttlichen Weltordnung. ‚Gott selbst‘, sagt er ausdrücklich, ‚ist das Recht, und darum ist ihm das Recht lieb‘, und die Glosse fügt hinzu: ‚Das Recht ist eine ewige Anweisung Gottes.‘ ‚Das Recht‘, heißt es in der Glosse an einer andern Stelle, ‚hat seinen Anfang von der Natur oder von der Gewohnheit.‘ ‚Das natürliche Recht heißt auch Gottesrecht, darum, daß Gott dies recht allen Kreaturen gegeben hat.‘ Durch dieses natürliche Recht sind ‚gefunden worden alle anderen Recht‘, und es ’soll und muss‘ deshalb ‚allen anderen Satzungen und Gewohnheiten das natürliche Recht vorgezogen werden.‘ ‚Ein gesetzt Recht mag wohl das andere aufheben, aber kein natürlich Recht mag es abtun.‘

Die Rechtsordnung ist begründet durch Sittengesetz und göttliche Offenbarung
Aus der durch das Sittengesetz und die göttliche Offenbarung begründeten Rechtsordnung entspringen die Einzelrechte, die als Mittel zur Verwirklichung dieser Ordnung dienen sollen und aus der Natur dieser Ordnung Form und Inhalt empfangen. Sie sind nicht bloße Befugnisse, sondern gleichsam ein von Gott übertragenes Lehen, für dessen Gebrauch der Mensch Gott verantwortlich, womit und wofür er Gott zu dienen schuldig ist; darum können sie aber auch niemanden willkürlich genommen werden ohne Versündigung gegen Gott. Jedes ‚wohl erworbene‘, d. h. auf sittlich erlaubte Weise erworbene Recht galt demnach, germanischer Auffassung gemäß, für unverletzlich, und zwar nicht allein gegenüber jedem einzelnen, sondern auch gegenüber der öffentlichen Gewalt.

Die staatliche Gewalt steht nicht über dem Recht
Denn auch die öffentliche, die staatliche Gewalt steht, so gut wie der einzelne, unter der Herrschaft des Rechtes, nicht über dem Recht. Die sittliche Ordnung, aus der die ‚wohl erworbenen Rechte‘ der einzelnen entspringen und die diesen Rechten das Siegel der Unverletzlichkeit verleiht, ist nicht durch den Staat geschaffen, sondern älter als der Staat und von Anfang an vorhanden gewesen.

Der Staat hat diese Ordnung lediglich zu verwirklichen; er ist wesentlich eine Rechtsanstalt, deren mächtigste, sozusagen einzige Aufgabe darin besteht: ‚das Recht zu stärken und das Unrecht zu kränken‘. Deshalb nannte man den Kaiser, den höchsten Träger der öffentlichen Gewalt, vorzugsweise den ‚obersten Stärker des Rechts‘, ‚den Richter des Reichs‘, und flehte bei seiner Krönung vor allem: Gott möge ihm Weisheit und Gerechtigkeit verleihen, daß er überall das Recht stärke und das Volk auf die Pfade des Rechtes geleite… ‚Ein strenger Freund des Rechts‘, ‚ein guter Richter‘ gewesen zu sein, war darum auch das höchste Lob, welches einem Kaiser nachgerufen werden konnte.

Die germanische Freiheit
Durch den Schutz jedes wohl erworbenen Rechtes sollte die staatliche Gewalt die Freiheit der Volksgenossen sichern; dieser Schutz war die germanische Freiheit.

Die Freiheit besteht nach germanischer Auffassung in dem Recht des Menschen: sein Leben den Vorschriften der göttlichen Offenbarung und des Sittengesetzes gemäß einzurichten. Hierzu, zu der Erreichung ihres persönlichen Endzieles, soll den einzelnen die öffentliche Gewalt behilflich sein. Das durch den Staat geschützte Recht soll jedem die Möglichkeit gewähren, seine sittlichen Lebensaufgaben zu erfüllen.

Weil aber diese Aufgaben für die verschiedenen Lebensberufe der Art nach verschieden, so verlangt der germanische Freiheitsbegriff für jeden Beruf das seiner besondern Aufgabe entsprechende besondere Recht. Die Rechtsgleichheit nach germanischer Anschauung liegt nicht darin, daß für alle dasselbe Recht gilt, sondern darin, daß jeder bei seinem Stand und Wesen geschützt wird; nicht darin, daß jeder das tun darf, wozu ein anderer berechtigt ist, sondern darin, daß keinem verwehrt ist, zu tun, was das Sittengesetz gerade als besondere Pflicht ihm zu tun auflegt.

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